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4.7 Der Seinsbegriff im Cogito-Argument
Auch die Bedeutung der Verben esse und existo ist uns nach Descartes angeboren. Sie gelten als als klar und deutlich im Sinne des Wahrheitskriteriums und werden nicht weiter problematisiert. Wie oben angemerkt geht dabei vor allem die Vieldeutigkeit der Begriffe verloren. Indem Descartes beide Verben mit gleicher Bedeutung versieht und sie im Cogito sogar absolut gleichbedeutend benutzt, vergibt er die Chance zur Differenzierung. Diese Unterscheidung wird häufig anhand der verschiedenen Bedeutungen der beiden Verben gemacht. Positiv gesehen öffnet er sowohl das esse wie auch das existere einer Allgemeinheit und Neutralität, die für Formalisieruengen von Argumenten rund um den Existenzbegriff wichtig sind. Hartmut Brands gibt in seinem Buch "Cogito, ergo sum" den einleuchtenden Vergleich mit dem Existenzquantor in der formalen Logik. In genau dieser Funktion benutzt Descartes die Verben des Seins und des Existierens. Das dadurch die eigentliche Sprengkraft des esse verschenkt wird, wurde hinlänglich erläutert. Und doch gibt die Einschätzung, dieses Verb als Existenquantor anzusehen auch Einblicke in die Formalisierungen, die gerade dadurch möglich werden.[46]
Das Sein im Cogito ist immer gleichzeitig die Gewißheit des Seins. Der Seinssinn steht im Cogito nicht zur Frage, nur das fürwahr halten als denkendes, existierendes Ding. Das nicht hinterfragte Sein aber ist nur Dasein als Selbstverständlichkeit. Die mangelnde Tiefe seines Seinsbegriffes im Cogito ist Descartes oft vorgeworfen worden. Der Begriff des Seins als bloßes Dasein ist zunächst für die Struktur des Argumentes aber ausreichend. Das Sein als Ausgangspunkt einer Gedankenkette wird aufgespalten in "res extensa" und "res cogitans" (Siehe Kap. 6.1). Schelling kritisiert Descartes` Sein als lediglich denkendes Sein, dessen Gewissheit darum nicht besonders stark sein kann. Weder das Ichsein noch das unbedingte Sein wird hinterfragt, nur ein Wissen vom Sein durch das Denkens aufgebaut. Auf dieser Grundlage bin ich halt nur auf gewisse Weise, nämlich durch das Denken. Neben dieser Grundlage des Seins existieren andere, ich bin also nur auf eine bestimmte Art und daneben gibt es viele andere Möglichkeiten zu Sein. Die Kritiker dieses Seinsbegriffes meinen, er nehme dem Cogito, ergo sum die ganze Kraft und lässt das Argument bestenfalls noch als laues Lüftchen erscheinen.[47]
Der Seinsbegriff als "esse" geht sowohl in der Ontologie als auch in Existensphilosophie und der Fundamentalontologie des 20. Jahrhunderts wesentlich tiefer. Als zentraler Begriff in Abgrenzung zum Seienden prägte er die Diskussionen gerade seit Antike und Scholastik wie kein anderer Begriff. Der denkende Mensch ordnet sich selbst im Sein ein, womit jede Philosophie weitläufig als Seinsphilosophie betrachtet werden kann. Sein als Grund, also als Logos des Denkens wird gerade im Nichtsein deutlich. Das Nichts lässt sich nur über das weniger Sein oder den Ausfall vom Sein definieren. Es ist somit nichts eigenständiges, sondern lediglich eine Leerstelle im Sein. Das Sein ist der am meisten diskuttierteste Begriff der Philosophie und gleichzeitig der unbestimmteste. Eine nähere Bestimmung funktioniert nur bei Definition über ein Seiendes.[48]
Gerade beim "esse" lohnt sich ein Blick auf die Wortbedeutung. Der eigentlich altlateinischen Optativ wird in der Grundform meist nur mit "sein" übersetzt, hat in gebeugter Form allerdings vielfältige Übersetzungen: dasein, vorhanden sein, existieren, leben, stattfinden, der Fall sein, zutreffen. In Zusammenhang mit Ortsangaben oder präpositionalen Ausdrücken wird er auch mit sich befinden, sich aufhalten, wohnen, leben, liegen und stehen übersetzt, adjektivisch: sich verhalten, stehen, gehen, möglich sein. Der Bedeutung im Cogito kommen auch lateinische Floskeln wie "sic est" oder "sunt ista" sehr nahe, die mit wirklich, wahr sein, gelten übersetzt werden.[49] Ohne das wichtigste lateinische Verbum ganz zu erschließen, kann man sich daran doch einen Einblick in die Vielfältigkeit und gleichzeitige Exaktheit des lateinischen "Sein" verschaffen.
Interssant ist Karl Jaspers Beitrag zum Seinsverlust im Cogito. Dieser komme dadurch zustande, das Descartes beim Zusammentreffen von Sein und Wahrheit im ersten Prinzip, das dem radikalen Zweifel standhält, "nicht weiterführt in die Tiefe des Seins."[50]
Mit der Erkenntnis des Seins bleibe Descartes auf der ersten Stufe der Untersuchung stehen und vergibt eine große Chance zur gründlichen Untersuchung des esse. Stattdessen gehe die Komplexität dieses Begriffes verloren und Descartes` Cogito stehe ohne diese Untersuchung nicht auf fruchtbaren Boden. Mit der Nichtbeachtung der unglaublichen Möglichkeiten des esse sei Descartes` Vorhaben, von Grund auf neu anzufangen, unglaubwürdig. Und das Cogito als erstes Prinzip ist falsch plaziert, da es noch tiefer liegende Wahrheiten gibt, die sich in der Bedeutung des Seins ergeben. Denn: "Das Bewußtsein des Daseins und möglicher Existenz des Selbstseins kann im Cogito, ergo sum einen Augenblick wie Alles erscheinen, um im nächsten wie Nichts zu sein: nämlich nur der bloße Verstand der Klarheit und Deutlichkeit, der nichts ist, wenn sonst nichts ist, was durch ihn klar und deutlich werden soll. Wenn aber so Descartes gleichsam von einem Nichts ausgeht, dann kann er auch zu keinem eigentlichen Sein kommen."[51]
[46] Brands, Hartmut: Cogito ergo sum. S. 64 f.
[47] Jaspers: Descartes und die Philosophie. S. 13ff.
[48] Ebd.
[49] Menge: Langenscheidts Taschenwörterbuch. Lateinisch. S. 505f.
[50] Jaspers: Descartes und die Philosophie. S. 83.
[51] Ebd.
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